Text
Elke Buhr
Datum
20.12.2024
Im zeitgenössischen Kunstbetrieb scheint das Patriarchat an vielen Orten langsam Geschichte zu sein. Gleichzeitig gibt es jedoch massiven Widerstand gegen feministische Positionen. Dieser spiegelt ein gesamtgesellschaftliches Problem
"Kinder, hört mal alle her", war das diesjährige Jahresmotto in der Kunsthalle Osnabrück. Doch statt der Kinder rief eine der Ausstellungen konservative Kräfte auf den Plan. Die Künstlerin Sophia Süßmilch stelle Werke aus, die inhaltlich und visuell inakzeptabel seien, hieß es in einer Mitteilung des CDU-Fraktionsvorsitzenden im Osnabrücker Stadtrat, Marius Keite. Das Werk propagiere kannibalistische Fantasien.
"Wir können und wollen nicht hinnehmen, dass unter dem Deckmantel der Kunst derartige groteske und verstörende Darstellungen öffentlich gezeigt werden", so Keite. Süßmilchs Ausstellung, die einiges an weiblicher Nacktheit, aber auch reizende Meerschweinchen zeigte, beschäftigte sich mit der Idee eines weiblichen Gebärstreiks angesichts des desolaten Zustands der Welt. In diesem Zusammenhang geht es um die grausame Märchenphantasie der Mutter, die ihre eigenen Kinder in einem pervertierten Liebesakt auffrisst.
CDU-Politiker Keite hatte offenbar nicht verstanden, dass Kunst, die Kannibalismus behandelt, ihn nicht deswegen automatisch propagiert. Außerdem war ihm entgangen, dass die CDU-Fraktion auch in öffentlich geförderten Häusern Ausstellungen nicht erlauben oder verbieten kann – Stichwort Kunstfreiheit.
Laut, nicht anschmiegsam
Die Kunsthalle wies die Vorwürfe zurück, Süßmilchs Schau konnte ohne weitere Probleme stattfinden. Aber mit Beschimpfungen und Morddrohungen wurde die Künstlerin trotzdem konfrontiert. Genauso wie die Choreografin Florentina Holzinger im Oktober nach Aufführungen ihrer fulminanten Operninszenierung "Sancta" in Stuttgart.
In Schwerin und bei den Wiener Festwochen hatte das Stück, in dem unter anderem Sex zwischen Frauen gezeigt wird und einer Performerin ein Stück Haut herausschnitten wird, das dann gegrillt und von einer anderen gegessen wird, noch ohne weiteres öffentliches Aufsehen Premiere gefeiert. In Stuttgart führten jedoch Presseberichte über einige Fälle von Übelkeit im Publikum zu einem medialen Großskandal. Und nachdem unter anderem die "Bild"-Zeitung und die katholische Kirche eingestiegen waren, wurde die "Sancta"-Schöpferin zum Objekt von Hassmails, Vergewaltigungs- und Morddrohungen, wie sie im Interview erzählte.
Süßmilch und Holzinger sind Künstlerinnen, die den weiblichen, nackten Körper sehr selbstbewusst einsetzen und eine klar feministische Stoßrichtung haben. Sie sind nicht anschmiegsam, sie sind laut. Und wenn Holzinger nackte Frauen ans Kreuz hängt, dann arbeitet sie damit auch eine mehrtausendjährige Geschichte auf, die vor Misogynie trieft wie die Körper ihrer Performerinnen vor Schweiß.
Ein Widerhall der gesamtgesellschaftlichen Gewalt
Den Protest dagegen könnte man angesichts einer Kunstwelt, in der nicht-männliche Positionen immer sichtbarer werden, als zu vernachlässigende Nebengeräusche abtun. Auf dem Kunstmarkt, vor allem im Hochpreissegment, ist die Vorherrschaft der Männer zwar ungebrochen, aber auf Biennalen und anderen zeitgenössischen Ausstellungen liegt mittlerweile die Aufmerksamkeit stark auf weiblichen und queeren Positionen – auch unser jährliches Monopol-Ranking spiegelt mit seinem leichten Frauenüberhang die neuen Verhältnisse in der Szene.
Im progressiven zeitgenössischen Kunstbetrieb scheint das Patriarchat so langsam wirklich Vergangenheit zu sein. Doch genau das ruft die Gegenreaktion hervor. Die Journalistin Susanne Kaiser hat diesen fatalen Zusammenhang in ihrem Buch "Backlash" als feministisches Paradoxon bezeichnet: Je stärker die Frauen, desto stärker der Widerstand.
Die verbalen Attacken gegen Süßmilch und Holzinger sind dabei nur ein Widerhall der gesamtgesellschaftlichen Gewalt gegen weiblich gelesene Personen, die nachweislich seit Jahren steigt: in den Partnerschaften und Familien, auch in akademisch gebildeten Oberschichten, wo Männer nicht mit besserverdienenden Frauen zurechtkommen. Im Netz, wo sich progressive Politikerinnen und Journalistinnen viel größeren Wellen von Hass ausgesetzt sehen als ihre männlichen Kollegen. Oder auch in der Politik, wo populistische Parteien traditionelle Familienbilder propagieren und beispielsweise in den USA der Zugang zu Abtreibungen und das Selbstbestimmungsrecht der Frauen massiv eingeschränkt werden.
Ein Hineinregieren in die Kunst
Neben dem allgemeinen antifeministischen Backlash stehen die Fälle Holzinger und Süßmilch aber noch für einen anderen unangenehmen Jahrestrend: Den wachsenden Anspruch der Politik, Einfluss auf Kunst und Kultur zu nehmen. Nicht nur die CDU in Osnabrück denkt mittlerweile, sie könnte Ausstellungen erlauben oder verbieten. Auch im Kontext der Konflikte zu Antisemitismusvorwürfen im Kunstbetrieb werden Grundprinzipien der Kunstfreiheit, genauso wie im Übrigen der Wissenschaftsfreiheit, immer weniger beachtet.
Wie auch immer man die Gründe für die parteiübergreifend verabschiedete Resolution "Nie wieder ist jetzt: Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken" bewerten mag, sicher ist: Wäre diese Resolution nicht nur ein schlichtes Instrument politischer Artikulation, sondern rechtsverbindlich, würde sie schnell über eine Verfassungsklage aus dem Weg geschafft. Denn dann griffe sie verfassungswidrig in die Kunstfreiheit ein. Der Staat darf das Vergeben von Fördermitteln nicht an politische Anschauungen knüpfen. Es ist eine Resolution auf Kosten der Grundrechte, wie namhafte Rechtsexperten im "Verfassungsblog" feststellten.
Seit dem Skandal um die Documenta Fifteen fühlt sich die Politik befugt, immer direkter in die Kunst hineinzuregieren, anstatt sich wie vor wenigen Jahren noch auf die Selbstverantwortung der Institutionen zu verlassen, auf das Korrektiv der öffentlichen Debatte und schließlich auf die Justiz, die für Straftatbestände wie Volksverhetzung und Ähnliches zuständig ist. Vom Respekt vor der Kunstfreiheit reden Politikerinnen und Politiker mittlerweile erst dann wieder, wenn sie ihre Ämter niedergelegt haben, wie Monika Grütters. Unser Wunsch also für 2025: Wieder mehr Freiheit für die Kunst. Möge sie sich würdig erweisen. Aber das ist ein anderes Thema.