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Amos Gitai: „Es ist wichtig, Hoffnung aufrechtzuerhalten“

Amos Gitai: „Es ist wichtig, Hoffnung aufrechtzuerhalten“
Amos Gitai inszeniert am Samstag im Burgtheater © APA/GEORG HOCHMUTH

Amos Gitai ist derzeit omnipräsent in Österreich. Im Burgtheater feiert am Samstag (4. Mai) sein Stück „Chronik eines Mordes – Jitzchak Rabin“ mit Bibiana Beglau und Dörte Lyssewski unter Regie des 73-Jährigen Premiere. Bereits am heutigen Donnerstag (2. Mai) startet im naheliegenden Filmmuseum eine große Retrospektive zum Filmœuvre des Regisseurs, die bis 1. Juli dauert. Und in Salzburg zeigt Thaddaeus Ropac noch bis 11. Mai die Schau „War Requiem“ mit Werken des Künstlers.

Mit der APA sprach der renommierte Filmemacher, der zu den großen politischen Stimmen seines Landes gehört, vor der Premiere über die Koalition der Extremisten im Nahen Osten, die Chance eines Neuanfang nach der völligen Zerstörung und die Frage, warum der Optimismus die einzige rationale Entscheidung ist.

APA: „Chronik eines Mordes – Jitzchak Rabin“ fußt auf Ihrem Dokumentaressay „Rabin, The Last Day“ aus 2015. Wie groß sind die Parallelen zwischen dem Stück und dem Film?

Amos Gitai: Es sind zwei sehr unterschiedliche Projekte. Das Theaterstück wird immer von zwei Schauspielerinnen getragen, die beide als Stimmen der Ehefrau von Jitzchak Rabin fungieren. Der Text dafür basiert sehr zentral auf den Erinnerungen von Leah Rabin. Für den Film hatten wir nur die Passage herausgegriffen, in der sie sich an den letzten Tag im Leben ihres Mannes erinnert. Offenbar hatte Rabin wie Julius Caesar bei Shakespeare eine Vorahnung des nahenden Unglücks. So hat er beim Aufwachen gemeint, dass er etwas im Auge habe und vielleicht nicht zur Kundgebung gehen sollte. Und später hatte er Angst, dass es regnen könnte oder niemand kommen würde. Am Ende ging er zu der Friedenskundgebung und wurde getötet.

APA: Seit der Premiere war „Chronik eines Mordes“ etwa in New York, Los Angeles und zuletzt in Paris zu sehen. Nun inszenieren Sie es das erste Mal seit dem 7. Oktober. Hat das Hamas-Massaker Ihre Sicht auf das Stück verändert?

Gitai: Die schrecklichen Ereignisse vom 7. Oktober, die Morde, die Vergewaltigungen und die Zerstörung, die angerichtet wurden und jetzt die tragischen Zustände in Gaza mit all der Gewalt machen das Fehlen einer politischen Führungsfigur wie Jitzchak Rabin, der bereit war, voranzugehen, nur noch deutlicher. Dadurch wird das unvermeidliche Abkommen zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Volk weiter hinausgeschoben – denn es ist völlig klar, dass ein für alle akzeptabler Modus Vivendi gefunden werden muss. Eine andere Option gibt es nicht.

APA: Nicht nur jährt sich Rabins Ermordung bald zum 30. Mal, auch der erste Wahlsieg von Bibi Netanjahu fand bereits 1996 statt. Ist mit diesem Politiker ein Frieden überhaupt denkbar, oder braucht er den steten Konflikt, um an der Macht zu bleiben?

Gitai: Wenn es um die Geschichte geht, treffe ich keine letztgültigen Aussagen. Wir sind keine Propheten. Ich erinnere mich noch genau, wie Ministerpräsident Menachem Begin und Verteidigungsminister Mosche Dajan beide einst kategorisch ausgeschlossen hatten, die Sinaihalbinsel jemals wieder an Ägypten zurückzugeben. Dajan hatte sogar proklamiert, es sei besser, Sharm-el-Sheikh zu haben als Frieden. Aber nach dem Jom-Kippur-Krieg mit seinen Tausenden Toten haben sie Sinai bis aufs letzte Sandkorn abgetreten. Man sollte Politikern immer misstrauen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass die Völker des Nahen Ostens nach der aktuellen Tragödie beschließen, dass sie Besseres zu tun haben, als sich gegenseitig umzubringen. Heutzutage ist die Situation für Israel so gefährlich, weil wir eine Regierung haben, in der korrupte, ultranationalistische, messianische Menschen sitzen, die nicht realisieren, in welcher Umgebung das Land liegt. Ein italienischer Journalist hat mir neulich gesagt, dass in seinem Land die gleiche Regierung an der Macht sei, worauf ich ihn gefragt habe: „Aber wie sieht es mit Ihren Nachbarn aus?“ Unsere Nachbarländer sind uns sehr feindlich gegenüber eingestellt, das ist im Falle von Frankreich und der Schweiz anders… Wenn man wahnhafte Aktionen setzt, wie die jüdischen Gruppen, die zum Tempelberg oder zu Josefs Grab ziehen, dann weckt man den schlafenden Tiger, die fanatischen Fundamentalisten der Hamas. Aber diese furchtbaren Angriffe auf das Musikfestival und die Kibbuze, das Töten von Kindern vor den Augen ihrer Eltern, diese Bestialität ist durch nichts zu rechtfertigen. Nicht einmal durch eine Selbstbestimmungsbewegung der Palästinenser.

APA: Und doch können Entscheidungen in Richtung eines Friedens nicht unilateral getroffen werden, wenn man an den einseitigen Rückzug Israels aus dem Gaza-Streifen 2005 denkt…

Gitai: Dieser Schritt muss von beiden Seiten kommen. Die Agenda der Hamas, der es um die komplette Zerstörung Israels geht, kann man klarerweise nicht akzeptieren. Und anderseits müssen Israelis und Palästinenser einen Weg finden, in Frieden nebeneinander leben zu können. Selbst die Ermordung Rabins geht letztlich auf das Konto von beiden extremistischen Seiten. Während das Oslo-Friedensabkommen verhandelt wurde, sind in den urbanen Zentren Israels die Busse explodiert und wurden viele Zivilisten durch palästinensische Attentäter getötet. Das hat dazu beigetragen, die Regierung von Rabin zu delegitimieren – bis dann ein Israeli eine Waffe in die Hand genommen hat und ihn niederschoss. Am stärksten ist die Koalition derjenigen, die im Nahen Ost keinerlei Abkommen wollen. Wir müssen diese Extremisten auf beiden Seiten bekämpfen.

APA: Sie waren als Künstler immer ein Brückenbauer. Sind Sie immer noch Optimist?

Gitai: Wir haben natürlich gute Gründe, Pessimisten zu sein. Aber was folgt daraus? Man kann nur Nihilist werden, weil man keinerlei Hoffnung mehr hat. Es ist wichtig, die Hoffnung aufrechtzuerhalten – aber nicht aufgrund dessen, was wir um uns herum sehen. Sondern weil wir diese Energie brauchen, wenn wir die Dinge ändern wollen. Es ist mittlerweile eine trauriges Ritual, die Ressourcen der Region immer wieder durch Bomben, die Vernichtung von Menschenleben und militärische Konflikte zu vergeuden. Nun entfaltet sich eine immense Tragödie für die palästinensischen Zivilisten in Gaza, nachdem die gesamte militärische und politische Elite Israels durch den Überraschungsangriff der Hamas gedemütigt wurde. Die aktuelle israelische Regierung glaubt, dass der Konflikt durch ein „Gleichgewicht der Kräfte“ zu lösen ist. Aber es wird niemals eine dauerhafte Lösung geben ohne einen ernsthaften Dialog, der das Leiden auf beiden Seiten benennt. Wir leben in dunklen Zeiten. Niemand weiß, wie es weitergehen wird. Aber ich bin überzeugt, dass wir die Hoffnung aufrechterhalten müssen. Die Alternative wäre Nihilismus, Zerstörung und Tod. Wir müssen weiterhin versuchen, den Pfad des Friedens einzuschlagen.

APA: Optimist zu sein ist also die rationalere Entscheidung?

Gitai: Das muss es sein, wenn wir eine Lösung für den Nahen Osten finden wollen. Überlegen Sie, dass vor weniger als 100 Jahren Dutzende Millionen in Europa auf schlimmste Weise niedergemetzelt wurden. Und dann haben sich die Europäer dazu entschlossen, dass sie vielleicht weiter unterschiedlicher Meinung sind, aber sich nicht mehr gegenseitig an die Gurgel gehen wollen. Daraus haben sie ein neues Miteinander gebaut. Wir Völker im Nahen Osten sind im Vergleich zu Euch Europäern von einst ganz moderat unterwegs. Meine Hoffnung bleibt deshalb, dass die Menschen die Agenda, den anderen zu zerstören, hinter sich lassen können und einen besseren Nahen Osten aufbauen.

APA: Bedarf es immer der völligen Zerstörung, um etwas Neues zu schaffen?

Gitai: Nicht notwendigerweise, aber in Europa war es so. Und im Falle des Jom-Kippur-Krieges war es so.

APA: Ist dieser ausbalancierte Blick, den Sie als Künstler auf Ihre Gesellschaft werfen, noch schwieriger geworden in einem Israel nach dem 7. Oktober?

Gitai: Israel ist zutiefst gespalten über der Frage, welches Land man sein möchte. Historisch betrachtet wurde Israel von Theodor Herzl dezidiert als antireligiöses Projekt konzipiert. So wollte man eine offene, liberale Gesellschaft aufbauen. Und nun haben wir ultraorthodoxe, nationalistische Kräfte an der Macht, weil der opportunistische Sesselkleber Netanjahu Ministerpräsident bleiben und nicht wegen Korruption ins Gefängnis gehen möchte. Deshalb hat er den Religiösen alle möglichen Zugeständnisse gemacht. Aber es gibt auch die Gegenkräfte.

APA: Was ist die Aufgabe von Kunst in solch einer Lage?

Gitai: Kann Kunst die Realität unmittelbar verändern? Leider nein. Wenn Sie sich bei Picasso fragen, welches unter den Tausenden Werken, die er geschaffen hat, wirklich bleibt, dann wird es „Guernica“ sein. Und doch hat im Duell zwischen Picasso und Franco der Diktator gewonnen und ist 30 Jahre an der Macht geblieben. Aber auf lange Sicht hat Kunst die Möglichkeit, etwas festzuhalten für das Gedächtnis und Zuversicht zu schaffen. Ich mache meine Filme als Bürger, als Zeuge der Geschichte meines Landes, der in die Geschehnisse involviert ist. Das gilt für „House“, „Kippur“ oder eben auch „Rabin, the Last Day“. Als ich den Film damals gedreht habe, ging es mir nicht nur um die Verehrung einer politischen Führungsfigur – was normalerweise nicht meine Art ist. Ich hatte Respekt vor seinem ernsthaften Bemühen, was man selten in der Politik findet. Rabin hätte ein hochdekorierter General bleiben können, der sich auf seinen Lorbeeren ausruht, hat sich aber entschieden, gegen den allgemeinen Zug der Zeit anzugehen und nach Lösungen zu suchen. In diesem Sinne war er ebenso Realist wie Visionär. Vor 30 Jahren wollte er einen gangbaren Weg für den Nahen Osten einschlagen, eine tragbare Alternative präsentieren. Und er glaubte daran, dass die Wahrheit die Basis ist, um nach vorne zu gehen. Diese Bemühungen wurden mit seiner Ermordung abgewürgt.

Ihre Frage war, was wir Künstler tun können. Sind all unsere Bemühungen völlig nutzlos, weil wir uns den grausamen Kräften, die momentan wirken, nicht entgegenstellen können? Ist es möglich, dass wir verlieren? Absolut, und leider auch wahrscheinlich. Aber das bedeutet momentan nicht viel.

APA: Ihre eigene Kunst entsteht dabei in praktisch allen Genres. Wovon hängt ab, in welchem Bereich Sie sich gerade ausdrücken wollen?

Gitai: Ich bin von der Ausbildung her Architekt. Sohn eines Architekten und Vater eines Architekten. Nachdem ich nie auch nur eine Stunde in einer Filmhochschule, einem Theaterseminar oder einer Kunstakademie zugebracht habe, mache ich einfach, was ich möchte. Es ist einfach wichtig, dass man gesellschaftspolitisch relevante Sachen macht – nicht im demagogischen Sinne eines Michael Moore, der dich in guter Absicht in eine Richtung zwingen will. Wenn ich mir seine Sachen anschaue, dann beginne ich an der guten Sache zu zweifeln, obwohl ich sie an sich natürlich unterstütze. (lacht) Ich möchte einen Betrachter ermutigen, zum Deutenden, zum Analytiker und nicht zum Konsumenten von vorgekauten Ideen zu werden.

(Das Gespräch führte Martin Fichter-Wöß/APA)

(ZUR PERSON: Geboren am 11. Oktober 1950 in Haifa, zählt Amos Gitai heute zu den prominentesten israelischen Filmemachern, ist aber auch als Theaterautor, Maler oder Keramikkünstler aktiv. Als Sohn des einstigen Bauhaus-Architekten Munio Gitai Weinraub, studierte er selbst zunächst Architektur, wandte sich dann aber den anderen Genres zu. Mittlerweile hat Gitai knapp 50 Filme veröffentlicht, darunter „Promised Land“ mit Hanna Schygulla und Rosamund Pike, „Free Zone“ mit Natalie Portman oder „Desengagement“ mit Juliette Binoche und Jeanne Moreau. Sein aktueller Film „Shikun“ feierte im Februar bei der Berlinale Weltpremiere.)

burgtheater.at; filmmuseum.at

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