In der Serie "Das Tor zur Welt" nehmen wir internationale Fußball-Klubs und ihre Geschichten genau unter die Lupe. Wir beleuchten die Hintergründe, die in der schnellen, täglichen Berichterstattung gerne untergehen.
Von Aston Villa und Benfica Lissabon über Europas größten Fußballklub IF Brommapojkarna, den Fan-Verein CS Lebowski bis hin zum deutschen Kultverein FC St. Pauli haben wir schon einige Klubs porträtiert. Hier kannst du alle nachlesen >>>
In dieser Ausgabe geht es um den 1. FC Heidenheim. Der Bundesliga-Klub hat sein ganz eigenes Fußballmärchen geschrieben. Eine Geschichte über Bodenständigkeit, Treue und Zwischenmenschlichkeit.
Gerade einmal 50.000 Einwohner hat Heidenheim an der Brenz. Die Stadt im Osten Baden-Württembergs pflegt zwar seit 1985 eine Städtepartnerschaft mit der niederösterreichischen Landeshauptstadt St. Pölten, gekannt hat sie vor 20 Jahren hierzulande aber kaum jemand.
Das hat sich geändert und schuld ist ein Fußballverein der Schwaben. Bei den Fans der beliebtesten Sportart der Welt ist der 1. FC Heidenheim in aller Munde. Dort hat sich in den letzten Jahren einiges zusammengebraut, das schlussendlich in einem Fußballmärchen gipfelte.
Was mit einem Kasten Bier vor 21 Jahren in der fünftklassigen Verbandsliga startete, führte für den 1. FCH über die Deutsche Bundesliga bis in die Ligaphase der UEFA Conference League.
Frank Schmidt - eine Ewigkeit auf der Bank
Der Klub hat sich zum Aushängeschild im Osten Baden-Württembergs gemausert. Zusammenhalt und Bodenständigkeit lauten die zwei Schlagwörter, die die Menschen mit dem Verein verbinden.
Der österreichische Legionär Mathias Honsak (27) erlebt den Klub seit dieser Saison hautnah mit. "Es ist sehr familär und sehr ruhig. Außerhalb hast du nicht so viel Einfluss, der auf dich einprasseln kann. Du kannst dich super auf den Fußball konzentrieren", erzählt der Wiener gegenüber LAOLA1.
Als große Macher des Klubs gelten Vorstandsvorsitzender Holger Sanwald und Cheftrainer Frank Schmidt. Noch weit entfernt vom Profifußball engagierte sich Sanwald bereits vor 30 Jahren als Funktionär des Klubs.
Der Unterhaus-Verein pendelte damals regelmäßig zwischen Verbands- und Landesliga hin und her. Vor 21 Jahren heuerte 2003 schließlich mit Frank Schmidt ein ehemaliger Zweitligaprofi an, der seine Karriere als Amateur bei seinem Heimatklub ausklingen lassen wollte. Der Deutsche hatte eine durchschnittliche Profilaufbahn ohne den ganz großen Durchbruch hingelegt, kickte in jungen Jahren in Wien für ein halbes Jahr in der Regionalliga Ost für den Wiener Sportclub (1997) und danach eine Saison in der 2. Liga beim First Vienna FC (1997/98).
Er wurde nur 200 Meter vom Heidenheimer Stadion entfernt geboren. Nach seiner Karriere wollte der gelernte Bankkaufmann als 27-Jähriger in einem Versicherungsbüro anfangen, nebenbei den Amateurfußball in vollen Zügen genießen.
"Es war blutiger Amateurfußball. Die Kameradschaft ist mir total in Erinnerung geblieben. Der Kasten Bier in der Kabine nach dem Training war für mich Neuland", berichtete Schmidt der "Deutschen Bundesliga".
Ein Fußballmärchen
Von Europacupnächten sangen die Fans dennoch damals schon. "Da habe ich damals gedacht, so richtig ernst können sie das nicht meinen", erzählt Sanwald dem "SWR".
2004 gelingt dann als Vizemeister über die Relegation der Aufstieg in die Oberliga Baden-Württemberg. Drei Jahre später hängt Schmidt seine Schuhe an den Nagel, hilft nur noch ab und zu als Trainer aus.
Nach einem schwachen Start im September wurde Schmidt für zwei Spiele interimsweise als Cheftrainer engagiert. Was mit einer Übergangslösung begann, endete mit einer Geschichte, die getrost als Fußballmärchen beschrieben werden kann.
Knapp 17 Jahre und 622 Spiele später sitzt der 50-Jährige immer noch auf der Trainerbank der Heidenheimer. Die Gegner heißen allerdings nicht mehr Schwieberdingen oder Normania Gmünd. Für Schmidt geht es bei Auswärtsspielen zu den Top-Adressen des Landes: Bayern, BVB oder Leverkusen. Zur Einordnung: Den Dortmunder Signal Iduna Park (81.365 Plätze) würde die gesamte Heidenheimer Bevölkerung nur zu ca. 61 Prozent befüllen.
"Da braucht keiner glauben, er kann sein eigenes Ding machen"
Heidenheim-Legionär Honsak
Den beispiellosen Aufstieg des Klubs beschreibt der Verein mit dem Wort "unkaputtbar". Schmidt ist der dienstälteste Trainer aller Zeiten im deutschen Profifußball.
"Knapp 17 Jahre in einem Verein, das ist ein Wahnsinn. Es zeigt, welchen Stellenwert er hier hat. Das zeigt er am Platz. So geht er voran. Der Trainer will, dass wir richtig Gas geben in jedem Training. Er zieht seine Spielweise durch. Darauf muss sich jeder einstellen. Da braucht keiner glauben, er kann sein eigenes Ding machen", berichtet sein Schützling Mathias Honsak.
Bodenständigkeit und Kontinuität sind in Heidenheim keine Marketing-Wörter, sondern werden regelrecht gelebt. In Heidenheim wird auf das Zwischenmenschliche gesetzt. "Einfach den Menschen in den Vordergrund stellen, ihn beobachten, ihm zuhören, um zu wissen, wie ich dem Spieler helfen kann", so Schmidt gegenüber dem "ZDF".
Bereits in seiner Premierensaison als Cheftrainer stieg Schmid 2008 in die Regionalliga auf, 2009 gelang der Sprung in die 3. Liga, dort konnte sich der Klub gleich im oberen Tabellenfeld etablieren.
Der Aufstieg als Krimi
Zwischen 2011 und 2014 holte der FCH zudem vier Mal in Folge den Landespokal. 2014 gelang dann der Gewinn der Meisterschaft in der 3. Liga und der damit verbundene Aufstieg in die 2. Deutsche Bundesliga.
Neun Jahre lang verbrachte der Klub dort, geriet nur 2017/18 in den Abstiegskampf. Obwohl die Heidenheimer lange in Gefahr waren, vertrauten sie weiter auf Schmidt. Das sollte sich lohnen. In der Folgesaison reichte es zu Platz fünf. Ein Jahr später war Heidenheim mit Platz drei und der damit verbundenen Relegation dem Oberhaus ganz nahe, scheiterte am Ende aber an Werder Bremen und der Auswärtstorregel (0:0 auswärts, 2:2 daheim).
In dieser Phase verließen zahlreiche Stützen den Klub. Heidenheim hat aber ein exzellentes Scouting, das den Klub bis heute auszeichnet. Die Neuzugänge sind größtenteils No-Name-Spieler, die dank gutem Scouting aus den unteren Ligen verpflichtet werden.
Heidenheim stabilisierte sich 2020 auch nach den Verkäufen von Schlüsselspielern wie Niklas Dorsch, Tim Kleindienst (beide Genk) oder Sebastian Giersbeck (Union Berlin). Die Schmidt-Elf wurde in den Folgejahren Achter und Sechster. 2022/23 folgt dann das nächste Kapitel eines unfassbaren Märchens.
In der 90. Minute des letzten Spieltags liegt der FCH bei Jahn Regensburg zurück, droht den fixen Aufstieg noch an den HSV zu verspielen. Mit Platz drei wäre eine erneute Teilnahme an der Relegation vonnöten. Doch die zwei Tore gelingen Jan-Niklas Beste (90.+3) und Tim Kleindienst (90.+9) noch in den letzten Momenten der Saison.
Weil Fixaufsteiger Darmstadt gleichzeitig patzt, wird der einstige Klub mit dem "blutigen Amateurfußball" Zweitligameister. Plötzlich ist er erstklassig, in der Beletage des deutschen Fußballs angekommen.
Selbst in diesem Erfolgsfall behielt Frank Schmidt die Bodenständigkeit, dachte an die Regensburger, die abgestiegen waren. "Ich bitte um Entschuldigung, ich weiß, dass Jahn Regensburg heute abgestiegen ist. Und wer uns kennt, weiß, dass der Mensch im Vordergrund steht", so der Erfolgstrainer auf der Pressekonferenz.
Diese Menschlichkeit und Kontinuität ist das Erfolgsrezept des Klubs. Ein Jahr später steht er nämlich vor einem ähnlichen Spieltag. Mit einem 4:1 schießen die Heidenheimer den 1. FC Köln am letzten Spieltag in die Zweitklassigkeit.
Dank eines späten Siegtores für Union Berlin gegen Freiburg, überholen die Heidenheimer auch noch die Breisgauer und werden Achter. Weil Kaiserslautern später im DFB-Pokalfinale Meister Leverkusen unterliegt, steht der 1. FCH jetzt vor dem Sprung in eine europäische Ligaphase.
Das Stadion platzt aus allen Nähten
Mit Jan-Niklas Beste (Benfica) und Tim Kleindienst (Gladbach) verloren die Heidenheimer zwei absolute Leistungsträger. Seinem Weg blieb der Klub dennoch treu. Von neun Neuzugängen in der aktuellen Saison verbrachten gerade einmal zwei Spieler (Mathias Honsak und Mikkel Kaufmann) vergangene Saison in der Deutschen Bundesliga.
Die Begeisterung ist in Heidenheim zu spüren. Lief Schmidt zu seinen Anfangszeiten noch vor etwa 700 Zuschauer in einem Heimspiel auf, platzt die Arena mit 15.000 Fans jetzt aus allen Nähten. Jede Partie im kleinsten Erstliga-Stadion des Landes ist ausverkauft. Eine Vergrößerung der Spielstätte ist angedacht. Mit 555 Metern Seehöhe ist die Voith-Arena das am höchsten gelegene Fußballstadion der Deutschen Bundesliga. Auf Höhenflüge hoffen die FCH-Fans auch in der neuen Saison.
Erfolgstrainer Schmidt steht in Heidenheim noch bis 2027 unter Vertrag, der 50-Jährige lebt den Klub, denkt gar nicht an einen Abschied. "Wenn man so denkt, wäre jetzt vielleicht in der Tat der richtige Zeitpunkt gewesen. Aber wir sind anders beim FCH, ich bin anders. Ich spüre Verantwortung. Ich bin hier extrem tief verwurzelt. Ich habe eine Zusage gegeben bis 2027 und ein Frank Schmidt ist noch nie davongelaufen", meinte er kürzlich gegenüber den "Stuttgarter Nachrichten".
"Ich würde ja meine Seele verkaufen..."
Der FCH-Coach traue sich zwar etwas anderes zu, aber "klar ist doch: Ich predige meinen Spielern Werte wie beispielsweise Verlässlichkeit. Ich würde ja meine Seele verkaufen, wenn ich meinen Vertrag bis 2027 nicht erfüllen würde. Was danach kommt, wer weiß". Treu ist Schmid nicht nur seinem Klub. Wie er der "Bild" verrät, ist er mit seiner allerersten Freundin verheiratet. Diese arbeitet genauso wie seine beiden Töchter als Krankenpflegerin.
Ohne Kleindienst und Beste tippen viele Experten Heidenheim als Absteiger. Mit bescheidenen Mitteln soll trotz Europacup-Belastung aber weiter oben gespielt werden. Angst habe Schmidt keine, denn sie hemmt. "Ein bisschen Bauchgrummeln, ja, das gehört dazu. Es gibt nichts Schlimmeres für mich im Leben als – der Bayer würde sagen – a gmahde Wiesn vorzufinden. Ich mag diese Herausforderungen, gerade dann, wenn alle Zweifel haben und alles in Frage gestellt wird", so der 50-Jährige.
Der 1. FC Heidenheim ohne Frank Schmidt kann sich kaum jemand vorstellen, den Klub gab es in der Form nur als bedeutungslosen Amateurklub. Spätestens in zehn Jahren wird aber genau das eintreten. "Klar ist für mich: Mit 60 bin ich kein Trainer mehr", offenbart der Heidenheimer.