
Demna verlässt Balenciaga und wird Kreativchef bei Gucci. Schafft es der gefeierter Designer, dem italienischen Modehaus eine neue Richtung zu geben, ohne es zu "balenciagisieren"?
Alles auf einmal. Wenn man glaubt, die Modewelt könne einen nicht mehr überraschen, tut sie es auf die absurdeste Art und Weise. Kreativdirektoren kommen und gehen? Kennt man. Die meisten sind mitteljunge, weiße Männer? Kennt man. Kreativdirektoren wechseln die Positionen untereinander? Kennt man auch. Und, wenn man sich nur ein paar Jahre zurückerinnert, kennt man auch ein mit Demna gekreuztes Gucci. Trotzdem ist es der Coup des Tages: Demna wird die neue kreative Leitung beim italienischen Modehaus Gucci und verlässt Balenciaga.
Beide Modehäuser gehören zum Luxuskonglomerat Kering. Demna muss also nur mal kurz über den Flur huschen? Nein, seine Aufgabe ist gewaltig. Im Jahr 2021 gingen die beiden damaligen Über-Marken, Gucci unter Alessandro Michele und Balenciaga unter Demna, eine Kollaboration ein. Als "Hacker-Projekt" wurde Micheles "Aria"-Kollektion bekannt, die Guccis 100. Jubiläumsjahr zelebrieren sollte. Klar von Demna geprägte Balenciaga-Silhouetten wie Strumpfhosen-Schuhe, kantige, taillierte Blazer und wuchtige Outdoor-Mode wurden im Doppel-G-Logo-Print überzogen. Die aus Guccis Sattel-Ära übergebliebene Trensenschnalle traf auf Balenciagas Hourglass-Tasche. Exorbitante Pailletten-Mäntel mit Gucci-Rapport wurden zur sportlichen Brille und Reiterstiefeln kombiniert.
Beide Kreativdirektoren, Michele wie Demna, hatten eine unverwechselbare Handschrift. Ihr jeweiliges Modehaus schlug unter ihnen eine gänzlich neue Richtung ein, die Ästhetik der Marke war unabdingbar mit dem Kreativdirektor verknüpft. Wie zwei Modekönige regierten sie die Ranglisten. Micheles kitschige Princetown-Fell-Slipper und Demnas gigantische Tripple-S-Sneaker galten als Erkennungszeichen, zu welchem ikonischen Modehaus man sich zugehörig fühlte.
Balenciaga und Gucci schienen festgefahren
Alessandro Michele ist heute bei Valentino zu Hause und romantisiert das Erbe des braungebrannten Markengründers. Demna war genau zehn Jahre als Kreativdirektor bei Balenciaga an der Spitze. Der Georgier provozierte erst Verwunderung, dann den absoluten Hype. Demna verstand es, den Zeitgeist in High Fashion zu übersetzen. Balenciaga gab den Ton an, war Avantgarde, jeder wollte eine Trainingsjacke und breite Sneaker aus Demnas Feder besitzen. Dann, im Winter 2022, sorgte eine Werbekampagne, in der Kinder Fetisch-Taschen trugen, für einen Skandal. Die Marke überlebte zwar, jedoch schien das Mode-Publikum mehr und mehr gelangweilt von Demnas Stunts. Alles war ironisch, eine Chipstüte wurde zur Handtasche, Gimmicks zu den Hauptfeatures einer Shows.
Auch nachdem sich der Designer öffentlich dazu entschlossen hatte, sich wieder mehr auf die Schneiderkunst und den Markenkern des französischen Couture-Hauses zu konzentrieren, nahm man ihm seine Kreationen nicht mehr so ab wie zu Beginn seiner Amtszeit. Jogginganzüge, abstrakte Ballkleider und klassische Anzüge wiederholten sich in fast jeder Kollektion. Der Ost-Europa-Chic, den Demna laufstegfähig gemacht hatte und der einst als revolutionär galt, hatte sich nicht weiterentwickelt. Die Marke schien festgefahren.
Das gleiche galt für Gucci. Nach Micheles Abgang im Winter 2022 sorgte der neue Kreativchef Sabato de Sarno drei Saisons lang für Stirnrunzeln. Trotz seiner "Gucci-Ancora"-Kampagne im penetranten Bordeauxton fehlte der rote Faden. Kleider wurden tragbarer, Mäntel schlichter, die Silhouetten simpler. Und damit langweilig. Was ein Aufstieg in das absolute Luxus-Segment hatte werden sollen, wurde zu anderthalb Jahren Identitätskrise.
Wird Demna Gucci "balenciagisieren"?
Letztlich vielleicht ein cleverer Schachzug von Kering: eine Atempause, ein Abkühlen zwischen zwei heißen Design-Krachern. Jetzt ist Gucci bereit für etwas Neues. Eine klare Vision, starke Codes, Wiedererkennbarkeit und ein Marken-Begehren müssen wiederhergestellt werden. Und anstatt an Hedi Slimane, wie es viele Mode-Insider vorausgesehen hatten, wird das nun an Demna liegen. Er hat die Chance, sich und das italienische Modehaus neu zu erfinden. Oder es zu "balenciagisieren"?
"Seine kreative Kraft ist genau das, was Gucci braucht", sagt Kering-CEO François-Henri Pinault. "Ich freue mich sehr, Teil der Gucci-Familie zu werden", erklärt Demna. "Es ist eine Ehre, für ein Haus zu arbeiten, das ich zutiefst respektiere und schon lange bewundere. Ich freue mich darauf, gemeinsam mit Stefano (CEO Gucci) und dem gesamten Team ein neues Kapitel der erstaunlichen Geschichte von Gucci zu schreiben." Im Juli wird die neue Zusammenarbeit beginnen. Wann Demnas Debüt-Kollektion kommt, steht jedoch noch nicht fest.
Warum also Demna? Er ist genau wie Alessandro Michele ein radikaler Maximalist mit einer selbstbewussten Vision. Vor einem Jahrzehnt wurde er bei Balenciaga gebeten, den subversiven und ironischen Ansatz weiterzuentwickeln, den er 2014 bei seiner eigenen Brand Vetements etabliert hatte. Demna verwandelte Balenciaga in eine Milliarden-Marke und steigerte den Umsatz von geschätzten 360 Millionen Euro im Jahr 2015 auf rund 1,85 Milliarden Euro bis 2022. Im Jahr 2000 lag Balenciagas Umsatz noch bei kläglichen 16 Millionen Euro, die größtenteils aus Parfümverkäufen hervorgingen. Seine Wirkung spricht also für sich. Doch einfach so weitermachen darf Demna nicht.
Nichts wird so sein wie bei Balenciaga
Man konnte Alessandro Michele dabei beobachten, wie er seine Designstrategie und -identität erst bei Gucci anwendete, und jetzt bei Valentino. Es sind die gleichen Konzepte und Elemente, nur bei einer anderen Marke im Einsatz. Auch Demna krempelte Balenciaga einmal komplett nach seinen Vorstellungen um. Jetzt ist Gucci an der Reihe, und er muss sicher gehen, dass er seine Ästhetik an das neue Umfeld und die neuen Ansprüche anpasst. Eine neue Gucci-Definition muss her, GG-bedruckte Jogginghosen werden nicht reichen. Schafft es Demna, sein Können so einzusetzen, dass Gucci eine neue Richtung einschlägt, die nicht sofort an Balenciaga erinnert? Kann er seinen eigenen Stil so weit zurücknehmen, dass die Marke und nicht Demna im Vordergrund steht?
Kering jedenfalls sieht optimistisch auf die Zusammenarbeit mit ihrem neuen alten Liebling. "Nach zehn Jahren ist er bereit, sich zu verändern und eine neue kreative Herausforderung anzunehmen. Er ist eklektisch in seiner Kreativität“, erklärte es Francesca Bellettini, stellvertretende Kering-Geschäftsführerin und verantwortlich für die Markenentwicklung.
Die Jungenkultur-Plattform @culted ließ Künstliche Intelligenz vorhersagen, wie eine Gucci-Kollektion unter Demna aussehen könnte. Die Roboter-Antwort waren Balenciaga-Formen mit Gucci-Druck – ein absoluter Albtraum Die Gucci-Führungsebene möchte indes, dass Demna definieren soll, was Luxus für eine junge Generation bedeutet. Nichts wird so sein wie bei Balenciaga. Seine Intention sei es etwas zu tun, das richtig ist für Gucci. Das wird ein spannender Sommer!