
Das "Off World"-Festival in Offenbach verwandelt Häuserfassaden in ein Open-Air-Kino. Die Videokunst läuft genau da, wo sich Fragen zu Leerstand und Stadterneuerung aufdrängen
Was tun, wenn die Zukunft einfach nicht eintreten will? 37 Jahre hat es gedauert, bis die in Ridley Scotts Science-Fiction-Film "Blade Runner" gezeigte Los Angeles-Vision hätte Wirklichkeit werden können. Doch als das besagte Jahr 2019 anbrach, war L.A. bei aller Dysfunktionalität noch weit entfernt von der düsteren Filmkulisse mit engen, übervölkerten Straßen und von riesigen Werbevideos illuminierten Hochhausschluchten.
Dann mache ich eben die Zukunft selbst, dachte sich Heiner Blum. Und vielleicht war es kein Zufall, dass der in Offenbach lebende und lehrende Künstler Hollywoods Großstadtdystopie aufgriff. Das im Zweiten Weltkrieg zerbombte und in den Folgejahrzehnten nicht minder zerstörerisch wiederaufgebaute Offenbach gilt gemeinhin als 'dirty sururb' der direkt benachbarten Mainmetropole Frankfurt. Die einstige Lederstadt hat den Ruf eines gefährlichen Pflasters, das nicht umsonst den Rapper Haftbefehl hervorgebracht hat – und mit der HfG eine notorisch unterschätzte Kunst- und Designhochschule beherbergt. Offenbach ist eben vor allem "Off".
Umso passender erscheint es, dass das urbane Videokunstfestival, das Heiner Blum in Kooperation mit der HfG und der Stadt Offenbach organisiert hat und das den aus "Blade Runner" grafisch und textlich entliehenen Titel "Off World" trägt. An sechs Abenden im März verwandelt sich die von Leerstand, Billigshops und dubios anmutenden Bars geplagte Offenbacher Innenstadt in ein frei zugängliches Open-Air-Kunstkino. Auf insgesamt elf Häuserfassaden sind seit dem 6. März neben Arbeiten regionaler und internationaler Videokünstlerinnen und Videokünstler auch historische Filmsequenzen und Kurzvideos von YouTubern, TikTokern und Instagrammern zu sehen.
Eine urbane Schnitzeljagd
Am Eröffnungsabend fand man sich inmitten eines zugigen, vollständig zugepflasterten Platzes wieder, der ungute Assoziationen an De-Chirico-Gemälde weckte. Wo man sonst schnellstmöglich vorübergeht, blieb der Blick an einer schmalen Hochhausfassade haften. Aus einer Raumfähre aufgenommene Mondkrater, durch Waldbrände zerstörte Landschaften, mitunter irritierende Mikroskopaufnahmen: In seiner Drei-Kanal-Videoinstallation "Song Of None" arbeitet der Frankfurter Künstler Jonas Englert mit Found-Footage-Filmmaterial aus privaten und öffentlichen US-Archiven. Die ununterbrochen über den schmutzigen Himmel donnernden Flugzeuge trugen unfreiwillig zum rauen, unheimlichen Eindruck bei.
Offenbachs Innenstadt hat viele Gesichter – und letztlich doch keins: Durch "Tabula rasa"-Stadtplanung der Nachkriegszeit geschaffene Riesenplätze wechseln sich mit den engen Gassen historisch gewachsener Stadtviertel ab; überdimensionale Bürohochhäuser pflegen ihren Leerstand direkt neben kleinen, von Glaubensflüchtlingen errichteten und bis heute genutzten Kirchen. Und weil in Offenbach alles Wesentliche fußläufig erreichbar ist, wird "Off World" zu einer urbanen Schnitzeljagd.
Wenige Schritte später blickt man auf die ansonsten nicht beachtenswerte Brandmauer eines Bekleidungs-Filialisten: Entrückt wirkende Straßenszenen, spielende Kinder, nostalgische Haiflossenheck-Straßenkreuzer: Helen Levitts 1948 entstandener Dokumentarkurzfilm "In The Street" zeigt das Alltagsleben in New Yorks Lower East Side, Bronx und Spanish Harlem. Ebenso wie Jonas Englerts Video ist Levitts Doku Teil einer von drei Rollen mit jeweils mehreren Filmen, die an den "Off World"-Abenden auf diverse Fassaden projiziert werden. Englerts "Song Of None" etwa wirkt auf einem Kirchenbau wesentlich geerdeter. An der Seitenwand einer Drogerie begegnet man Helen Levitts "In The Street" noch einmal in einem wesentlich intimeren Setting.
Kaufhof-Filialen, die an Hollywood-Dystopien erinnern
Weil das Gebäude, wo heute Hygieneartikel und Babynahrung herrschen, seit den 1920er-Jahren ein Kino beherbergte und davor noch länger als Synagoge diente, mutet die Filmprojektion unter sternenklarem Himmel und hell leuchtender Mondsichel geradezu magisch an. Das Konzept der Ausstellungsmacher, die bewussten Betrachter ebenso wie die zufälligen Passanten zum Stehenbleiben und Hinschauen zu animieren, geht nicht nur hier auf.
Am wirksamsten entfaltet sich dieses Prinzip an der Fassade des ehemaligen Kaufhof-Marktes in der Frankfurter Straße, die das traurige Schicksal vieler deutscher Fußgängerzonen ereilt hat. Nun versucht die Offenbacher Stadtverwaltung, der einst hochfrequentierten Einkaufsstraße neues Leben einzuhauchen – auch "Off World" zeugt von diesen Bemühungen.
Auf der Fassade zeigt der Schweizer Künstler Beat Streuli mehrere Videos aus seiner Reihe "High Street". Die von ihm in Hongkong, Dubai, Istanbul, Birmingham und Rom in Zeitlupe aufgenommenen Passanten erweisen sich dank der mehrteiligen, großflächigen Projektion als Blickfang und verleiten etliche Fußgänger zum Hinsehen. Ihnen eröffnet sich ein bislang vielleicht unbekannter, reflexiver Blick auf ihre urbane Umgebung. Was geht den Betrachtern dabei durch den Kopf? Messen sie sich mit den Bewohnern globaler Metropolen? Oder fragen sie sich eher, warum ihre Stadt so sehr an Hollywood-Dystopien denken lässt?