
Venedig ist eine Stadt - aber vor allem auch eine Fantasie und Projektion, die von Las Vegas bis Schwäbisch Hall kopiert wird. In ihrem Projekt "VeniceBeReal" geht die Künstlerin Stefanie Bürkle der ständigen Wiedergeburt des Ortes auf den Grund
Den "Tod in Venedig" kann man heute überall auf der Welt sterben. Man kann in Venedig im chinesischen Shenzhen sterben, in Las Vegas oder in Los Angeles. Genauso gut in Rimini, bei einer Gondelfahrt auf dem Canale Grande. Man könnte meinen, keine Stadt sei weltweit so verbreitet wie Venedig, wenn man nur an einige ihrer Wiedergeburten denkt: sei es die 1905 von Abbot Kinney eröffnete "Venice Recreation Area" in Los Angeles mit ihrer Nachbildung der mediterranen Kanäle, der Markusplatz mit Dogenpalast im 1993 eröffneten "Window of the World Park" in Shenzhen oder der Anfang 2000 entstandene venezianische Karnevalsumzug "Hallia Venezia" im baden-württembergischen Schwäbisch Hall. Ist Venedig womöglich ansteckend?
Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Abbot Kinneys Nachbildung Venedigs am Strand von Santa Monica schnell als "Coney Island des Pazifiks" bekannt wurde. Tatsächlich gab es neben den aus Italien importierten Gondeln samt Gondoliere auch Freakshows, Tanzlokale und Tierzirkus-Auftritte. Kurzum, im pazifischen Venice zeichnete sich bereits die Zukunft der Serenissima ab: als Vergnügungspark der Welt, wenngleich ihr schönster, mit Luxus-Shopping statt Fahrgeschäften.
Passend dazu blinkt in bunten Neonfarben der treffende Ausstellungstitel "VeniceBeReal" über dem Eingang zum Berliner Kunstraum Meinblau. Dort präsentiert Stefanie Bürkle erstmals Ergebnisse ihres künstlerischen Forschungsprojekts "Imaginationen Venedigs".
Aneignung, Wiederherstellung und Neuerfindung
Seit 25 Jahren fotografiert die Künstlerin Venedig auf ihren Reisen, für die natürlich die Kunstbiennale immer wieder Anlass war und ist. Deren Gründung 1895 war bekanntlich auch schon touristisch motiviert. Doch es dauerte noch fast 100 Jahre, bis mit dem Hype um die zeitgenössische Kunst die Biennale zum Anlass schlechthin eines Venedigtrips und wichtiger Lieferant weiterer Stadtansichten wurde. Stefanie Bürkle versteht ihre Bildproduktion als Teil der globalen Zirkulation dieser Bilder, als Teil eines Loops, in dem Venedig auf ganz unterschiedliche Vorstellungen und Fantasien von Räumen projiziert oder fixiert, reproduziert und multipliziert wird.
Diese Reise der Bilder und den damit einhergehenden Prozess ihrer Aneignung, Wiederherstellung und Neuerfindung an fremder Stelle verfolgt Bürkle in ihren "Imaginationen Venedigs": einem Projekt des Sonderforschungsbereichs "Re-Figuration von Räumen" der TU Berlin. Über 4000 Fotografien von Venedig und seinen Klonen finden sich inzwischen in ihrem "Atlas".
So nennt die Künstlerin ihr Archiv in Anlehnung an Aby Warburgs "Mnemosyne Atlas" und dessen Konzept des "bewegten Beiwerks". Warburg erbrachte so die visuellen Nachweise, dass Motive der antiken Kunst in der Renaissance nachgewirkt haben, wobei sie jedoch eine entscheidende Modifikation erfuhren.
Venezianische Stimmen
Die Stirnwand der hohen, an einen Kirchenchor erinnernden Halle des Meinblau ist ideal für die Projektion von Bürkles Bilderstrudel im 50-minütigen Videoloop. Von einer Drohne gefilmt, legen anonyme Hände eine Auswahl von rund 400 Fotografien auf den schwarzen Untergrund (und nehmen sie wieder ab), und zwar nach dem Grundriss, den der für das Wassersystem verantwortliche Christoforo Sabbadino 1557 von Venedig zeichnete. Die Stadt erscheint bei ihm sehr körperlich, wie zwei Hände, die ineinandergreifen.
In deutschen Klein- und Mittelstädten entstand die Fotoserie "Eiscafé Venezia". Aufnahmen daraus sammeln sich im Stadtteil Cannaregio, während sich die venezianischen Löwen in all ihren Ausgeburten am Lido tummeln und der Markusplatz mit seinen Arkaden, dem Dogenpalast und dem Campanile, der in Las Vegas 50 Zentimeter niedriger ist als an der Lagune, tatsächlich im Zentrum liegt. Es soll weltweit 50 Markusplätze geben.
Begleitet wird der Loop von einem Soundtrack, in dem eine KI-Stimme immer wieder Zitate aus den Interviews einspricht, die Stefanie Bürkle mit 16 langjährigen Einwohnern geführt hat. Darunter findet sich eine amerikanische Architektin, die seit 40 Jahren in Venedig lebt, oder ein Schwabe von der Alb, der mit zwölf Jahren seine Eltern nach Italien begleitete und sofort wusste, dass er nur hier leben kann. Von einer gebürtigen Venezianerin stammt das erstaunliche Bekenntnis, dass sie einmal in ihrem Leben gern Touristin wäre, einfach, um die Stadt zum ersten Mal zu sehen. Das müsse doch ein unglaubliches Erlebnis sein.
So kehrt Venedig nach Venedig zurück
Eine ebenso faszinierende Erfahrung war für Stefanie Bürkle die Wiederkehr Venedigs auf der menschlichen Haut. Nur ein einziger lokaler Tätowierer sticht dieses Ganzkörpertattoo, das zudem den Gondoliere vorbehalten ist. Das erzählt der Besitzer des Kunstwerks in einem Video, in dem man einige Gesprächspartner von Bürkle kennenlernt. Neben diesem Film und dem Atlas-Loop liegt ein Faltblatt aus, das als Katalog fungiert und unter Stichworten wie etwa "Transformation" und "Airbnb" über die Kapitalisierung Venedigs informiert. Oder unter "Social Media" und "#Venice" über die typische Bewegungschoreografie der Besucher aufklärt, wie sie mit ausgestrecktem Arm vor den Sehenswürdigkeiten verharren.
Kante an Kante gesetzte Fotografien vom Original und seiner Kopie, auf Barytpapier abgezogen und mit winzigen Magneten an die Wand gepinnt, erzählen von weiteren Translokationen und Transformationen Venedigs. Im Hotel Venetian endet der Blick auf die Seufzerbrücke perspektivisch auf einer Fototapete. In Venedig war er lange von einer Prada-Werbung verhängt. Auf einem Foto aus den 1990er-Jahren besteht auch der Dogenpalast zur Hälfte aus einer Bildplane. Damals zeigte sie noch einen Ausschnitt aus einem Gemälde von Tiepolo, in dem Neptun die Schätze aus seinem Füllhorn der Stadt zu Füßen schüttet. Es war das letzte Bild, das die Republik Venedig in Auftrag gab. Danach war sie pleite.
Eine Erfahrung, die auch der Besuch eines Casinos lehrt. Das von Venedig ist eines der ältesten der Welt. 1638 eröffnet, war es ein Theater mit Spielbetrieb in den Pausen. Heute fristet es ein glanzloses Dasein am Canale Grande. 1999 stellte das Casino am Lido seinen Betrieb ein. Im Stil der "Architettura razionale" des Faschismus erbaut, hatte es 1938 eröffnet. Heute wird unweit vom Flughafen Marco Polo im Ca’Noghere gespielt, dessen Architektur und Innenausstattung auf den Stil der Spielhallen von Las Vegas zurückgehen. Auch so kehrt Venedig nach Venedig zurück.