
Text
Larissa Kikol
Datum
18.03.2025
Was machen Künstler ohne Atelier? Die Freunde Eliote, Ishem, Hams und Felix steigen in Marseille unter die Erde und verwandeln einen Wassertunnel in einen Ort für urbane Höhlenmalerei
In Marseille fließt ein sieben Kilometer langer Fluss gemächlich unter den Straßen entlang. Das brachte vier Künstler auf eine Idee: Sie besorgten sich Gummistiefel und Baustellenlampen und verwandelten die Unterwelt in ein Atelierhaus und eine Ausstellungshalle. Die Genehmigung dafür erhielten sie sofort, und zwar von sich selbst. Wo Aussicht und Höhe zum Statussymbol geworden sind, gehen die vier Freunde seit Jahren unter die Erde - und haben kilometerweise ihre Ruhe.
Der Tunnel durchläuft die französische Stadt von Süd nach Nord und bietet hohe Betonmauern. An regenlosen Tagen steht das Wasser nur bis zu den Unterschenkeln. An den Seiten bieten schmale Steinwege Platz, um Farben, Lampen und Lautsprecher für Musik abzustellen. Ateliers in Marseille sind knapp und teuer, städtische Räume werden lieber an philosophierende Konzeptkünstler als an Schmutz machende Maler vergeben. Also müssen alternative Orte selbst gefunden werden.
Die Praxis von Eliote, Ishem, Hams und Felix gleicht einer urbanen Höhlenmalerei. Denn die Bilder entstehen direkt auf den Wänden. Ihre Farben fahren sie im Einkaufswagen durch den Kanal. Je nachdem, wo sie gerade arbeiten, müssen einige Meter zurückgelegt werden. Baustellenlampen halten mehrere Stunden, so verbringen sie auch mal ganze Tage oder Nächte dort unten. Wenn die Batterien der Lautsprecherboxen aufgeben, malen sie unter dem fernen Brummen der über ihnen fahrenden Autos weiter. Manchmal kommen ein paar Ratten zu Besuch. Wenn es anfängt zu regnen, müssen sie ihre Sachen packen. In Marseille kann Niederschlag den Kanal in einen reißenden Fluss verwandeln. Dann wird die Ausstattung schnell in Taschen geworfen. Die Künstler laufen hinaus, bevor die Flut sie mitreißt. Ihre Wandbilder halten hingegen dem Wasser stand. Das unterirdische Museum der Malerei wird zu den größten der Gegenwart gehören.
Tanz für die Malerei
Eliote, Ishem, Hams und Felix lernten sich auf der Straße kennen. Alle vier kommen aus dem Bereich Graffiti. In der Stadt taggen sie ihre Namen oder ihre Crew: YY. Unterirdisch entwickeln sie eine abstrakte Bildsprache, in der die Buchstaben weitestgehend verschwinden.
Felix ist hauptberuflich Tänzer. Im Tunnel malt er nicht nur, sondern entwickelt auch improvisierte, zeitgenössische Performances. Die Kapuze verdeckt das Gesicht, die Kleidung entspricht der anonymen, nächtlichen Graffiti-Welt, in der jede individuelle Auffälligkeit durch Kleidung oder Accessoires vermieden wird. Somit stehen allein seine Körperbewegungen und sein Schatten im Vordergrund. Der Tänzer der Unterwelt, der die Leere des Raumes bespielt, tanzt nicht für Publikum, sondern für die Malerei.
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Ebenfalls improvisiert sind die Wandbilder von Hams. Sie entstehen meist durch lange, gestische Linien. Die Malerei geht ins Rohe, Brutale, setzt den Strich als sich wiederholendes Element ins Bild, als stürzenden Wasserfall oder als räumliche Höhlenstruktur. Fast lassen sich Landschaften erkennen, Unterwelten, die trotzig aufblühen, oder flackernde Momente, die im Laserstrahl antarktische Erschütterungen einfangen.
Die Geste beschreibt Strukturen, die brechen, krachen, splittern. Die expressiven Welten lassen an Hochplateaus, Gebirgsketten, fallendes Wasser mit Eiszapfen denken. Das schnelle Tempo in seinen Bildern, das Zucken der Bildfläche erinnert aber auch an Techno-Clubs und helle Stadtnächte. Hams entwirft Atmosphären, die die Grenzen von Landschaft, urbanem Raum und rohen Banlieues nicht nur auflösen, sondern wie einen Baukasten durcheinander werfen.
Auf die Frage "Was war zuerst da? Die Landschaft oder die Stadt?" lässt sich in diesen Welten keine klare Antwort mehr finden. Doch vielleicht gibt es in seinen Bildern auch gar keinen Inhalt. Die Muster fühlen sich auch wie reine Abstraktion an, eine l'art pour l'art, die sich von den privatisierten Grenzen und Gesetzen einer Stadt zurückzieht und sich dafür im Untergrund den Platz nimmt, den sie will.
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Die Malerei des französisch-niederländischen Künstlers Eliote gleicht einem regellosen "De Stijl". Eine Mischung aus geraden Linien, Gittern und sahnig runden Wölbungen prägen die Kompositionen. Mal gehen sie Richtung Gotik, mal in den Brutalismus, mal in den Futurismus der Post-Graffiti-Sphäre, durchzogen mit etwas Dunkelheit. Darüber wehen große Spinnennetze wie verwunschene graue Himmel. Die Spinnen haben Eliote inspiriert. Für eine Galerieausstellung nahm er sie sogar mit und ließ die Tiere ihre Netze im white cube spinnen. Danach gab er ihnen in einem Park ein neues Zuhause.
"Das Weglassen der Farben schafft mir neue Möglichkeiten", erzählt Eliote. "Ich habe ein paar Mal versucht, Farben einzubauen, aber das Bild war am Ende immer schlechter. Also war ich konsequent." Diszipliniert sind auch seine Atelierzeiten: Am liebsten fängt er morgens zwischen fünf und sechs an zu malen. Ein paar Stunden, danach geht er zur Arbeit. Gerade im Sommer sei es um diese Uhrzeit schön frisch im Tunnel. In der Stille könne man aber auch ein bisschen paranoid werden, Stimmen hören, meinen, dass Menschen sich nähern. In Wirklichkeit habe sich nie jemand nach da unten verirrt.
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Wie alles angefangen hat, weiß Ishem am besten zu erzählen. Er und Eliote waren die ersten der Freunde, die den Tunnel durchliefen. "Vor 15 Jahren malten wir dort immer nur an den Ein- und Ausgängen, an den Wänden unter freiem Himmel. So wie das die Meisten heute noch machen, die sich dem Tunnel nähern. Da versammelten sich alle, wir auch. Und dann wurde es voll", erinnert sich Ishem.
Also erkundete er das Dunkle, lief hinein und einfach immer weiter, viele Kilometer lang. "Dort unten waren endlos freie Flächen, unversehrte Wände, Platz, Ruhe, hin und wieder ein paar Tags, ganz wenige Graffiti." Danach kreisten Ishems Gedanken um den Tunnel. Es sei wie eine Matrix, "eine Simultanwelt, aber eben wie die gute Matrix. Gerade die Zeit, die du da unten nicht mehr fühlst, dieses sich Verlieren in einen Ort, der dich zum Malen einlädt, das war toll. Und gleichzeitig macht dieser Ort, wo keiner deine Sachen sieht, für einen Sprayer ja überhaupt keinen Sinn."
Aber der Tunnel lockte Neues hervor. "Nicht wie ein U-Bahnschacht, wo du auf die Zeiten und das Wachpersonal achten musst. Auch nicht wie eine Autobahn, wo du das eine gute Graffito hinbekommen musst, weil das dann jeder direkt sieht." Die Freiheit unter der Erde lag darin, einfach zu experimentieren, zu spielen, Malerei zu entwickeln, Zufälle herbeizuführen und dann entweder zu scheitern oder glücklich zu sein. So entstand nach und nach eine malerische Formensprache, die sich von klassischem Sprühen entfremdete.
Ishems Ansatz gleicht dem eines DJs. Es ist ein Sampeln und Remixen. Dazu zählen Elemente aus dem Graffiti, aus Tags und Schriften, die schon an den Wänden waren, aber auch malerische Partien, die vom Impressionismus oder Expressionismus inspiriert sind. "Es ist immer ein Freestyle, bei mir gibt es vorher nie einen Plan oder eine Skizze." Ishems Haltung erinnert an die der Dadaisten. Die wilden Collagen, das Kombinieren aus Schrift und Bild, das Durchmischen von Kulturen und Einflüssen. Und der Humor dabei. "Es ist alles ein großes Experiment. Und wir sind da unten noch lange nicht fertig."
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Allein Ishem habe über 100 unterirdische Bilder gemalt. Mit seinen Freunden Hams, Eliote und Felix werden es noch mehr. Die YY-Künstler verwandelten den Tunnel in Marseille in einen einzigartigen Ort für autonome Malerei. Und wie rappten die Fantastischen Vier doch gleich? "Wunderschöner Tunnelblick, Unternehmer unter sich, oben alles ungewiss, wenn man es mal runterbricht. Die Upperclass wundert sich, weil sie nicht mit uns unten ist, High-Society heißt heute Unterschicht."