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95 Prozent der Händler klagen über Bürokratie

95 Prozent der Händler klagen über Bürokratie
95 Prozent der Händler klagen über Bürokratie
Rainer Will

Handelsverband-Chef Rainer Will im medianet-Interview: Regierung ist gefordert, Bürokratie-Müll zu entsorgen.

••• Von Oliver Jonke und Christian Novacek

Der österreichische Handel steht unter Druck. Die Konsumlaune ist gedrückt, die Kosten steigen, und ein Dschungel aus Regeln erstickt viele unternehmerische Initiativen. Doch Handelsverband-Geschäftsführer Rainer Will gibt sich kämpferisch. Im medianet-Interview mit Herausgeber Oliver Jonke fordert er strukturelle Reformen, Entbürokratisierung – und auch mehr Augenmaß in der Wirtschaftspolitik.

„Der Handel hat gelernt, mit Krisen zu leben und macht immer das Beste aus der Situation”, ist Will grundsätzlich positiv gestimmt. Doch Optimismus allein reicht dieser Tage nicht mehr aus: Seit drei Jahren befindet sich Österreichs Wirtschaft in einer Rezession.
Zwar konnte das zuletzt unerwartet starke Weihnachtsgeschäft einiges übertünchen, die Alarmglocken hat es aber nicht zum Schweigen gebracht – die Erwartungen an die neue Bundesregierung, dem Handel die eine oder andere Bahn besser zu ebnen, sind mithin hoch. Will fordert: „Die Regierung muss die Spielwiese für den Handel endlich erleichtern.”

Bürokratie overloaded

Ein – oder vielleicht sogar das – Hauptproblem ist die überbordende Bürokratie. Im EU-Vergleich liegt Österreich laut Will direkt hinter Frankreich, was die Dichte an Regulierungen betrifft. „95 Prozent der Händler klagen über Bürokratie”, berichtet Will. Kostenintensive Vorschriften setzen den Unternehmen zu – etwa bei der Erneuerung von Kühlgeräten: „Allein das Kältemittel zu wechseln, kostet bis zu 200.000 Euro pro Filiale. Und wenn man alles erneuern muss, sind es gleich 700.000 Euro.”

Für viele kleinere Betriebe ist das eine unüberwindbare Hürde. „Die Kosten decken sich oft gerade einmal mit den Umsätzen. Bei einem Fünftel der Händler überwiegen die Kosten – das führt zu realen Verlusten.”
Dazu kommt die Mietvertragsgebühr, die in Europa sonst kaum mehr existiert. „Man zahlt tausende Euro an den Finanzminister, bevor man überhaupt den Schlüssel zur Fläche bekommt. Das muss dringend weg – wie im Privatbereich auch.”

Föderale Divergenzen

Auch im Föderalismus sieht Will ein massives Hindernis für effiziente Standortentwicklung. Unterschiedliche Regeln in Gemeinden und Bundesländern erschweren landesweite Strategien. „Wir sind als Land schon klein genug. Wir müssen uns nicht auch noch verzwergen.” Gerade bei der Raumordnung brauche es mehr Einheitlichkeit: „Im einen Bundesland kann man 1.500 m² Verkaufsfläche errichten, im anderen nur 300. Das hemmt massiv.”

Will fordert daher einen grundlegenden Kurswechsel in der Herangehensweise: „Wir brauchen ein ‚One-in-two-out'-Prinzip bei neuen Regeln. Die unternehmerische Freiheit ist verloren gegangen.”
Als Beispiel nennt er Rabattaktionen: „Wenn man im Schaufenster einen Rabatt ankündigt, droht eine saftige Verwaltungsstrafe – während Onlinehändler frei agieren können.”
Neben der Bürokratie wird der Handel zunehmend von Drittstaatenanbietern unter Druck gesetzt. Plattformen wie Temu locken mit extrem niedrigen Preisen – oft unter Missachtung europäischer Normen. „Wir haben Sandalen analysiert, deren Bleiwert das Zehnfache des zulässigen Grenzwerts überstieg. Das geht sprichwörtlich unter die Haut.”
Die Folge: Massiver Wettbewerbsnachteil für heimische Händler. „Diese Pakete ziehen sich wie Müllstraßen durch Europa – und entziehen Gemeinden Kaufkraft, Arbeitsplätze und Steuereinnahmen.” Der stationäre Handel verliere zunehmend an Bedeutung – mit Folgen für ganze Regionen. Will verweist hier auf eine bekannte, nichtsdestotrotz leider gültige Aussage: „Wenn das Geschäft stirbt, stirbt der Ort.”

Im Ort verankert

Denn gerade im ländlichen Raum erfüllt der Handel eine wichtige gesellschaftliche Funktion. „Wenn der Bäcker oder der Textilhändler schließt, trifft das nicht nur den Umsatz. Es geht um Begegnung, Versorgung, Verankerung im Alltag.” Deshalb brauche es auch ein besseres Zusammenspiel zwischen Handel, Politik und Kommunen: „Die Bürgermeister müssen verstehen, dass ein Ort ohne Nahversorger nicht nur unattraktiv wird – sondern strukturell kippen kann.”

Gleichzeitig glaubt der Geschäftsführer des Handelsverbandes stark an die Innovationskraft der Branche – dieser Glaube wird durch neue Trends befeuert: „52 Prozent der Händler setzen KI bereits breit ein – von automatisierten Bestellungen über Chatbots bis zu Regalrobotern.” Der Vorteil: Effizienz, Geschwindigkeit und bessere Planbarkeit. „Heute wird schon je nach Wetterlage automatisch nachbestellt.”

Gamechanger Konsument

Zugleich verändert sich das Konsumverhalten rasant. „Kundinnen und Kunden erwarten heute Omnichannel-Modelle, schnelle Verfügbarkeit und personalisierte Ansprache.” Auch dafür brauche es digitale Kompetenz und Investitionen – und mehr unternehmerische Freiheit! Der Handel müsse in der Lage sein, schnell auf Trends zu reagieren. „Doch das funktioniert nur, wenn man ihn nicht permanent fesselt.”

Stationär ist sozial

Allen Unkenrufen zum Trotz bleibt der stationäre Handel unverzichtbar – und das nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in der sozialen Perspektive. Derzeit sucht die Branche rund 9.300 neue Mitarbeiter.

„85 Prozent der Beschäftigten würden ihren Job weiterempfehlen. Das liegt auch am zwischenmenschlichen Kontakt – den viele nicht missen wollen.”

Gerade im Handel sei mittlerweile auch der Frauenanteil in Führungspositionen beachtlich: „72 Prozent der Filialleitungen sind weiblich – viele davon in Teilzeit. Wir bieten aber auch tausende Vollzeitstellen.” Will betont die Rolle des Handels als Integrationsmotor – mit attraktiven Lehrberufen und einer E-Commerce-Lehre, die hohe Zufriedenheitswerte erzielt.
Der Wermutstropfen in diesem Bereich lautet darauf, dass auch der Arbeitsmarkt unter Druck steht. Die Politik müsse Anreize setzen, damit sich Leistung wieder lohne. „Es kann nicht sein, dass man mit geringfügiger Beschäftigung und Schwarzarbeit besser dasteht als mit einem Vollzeitjob.” Auch die Bildungskarenz sei teils missbraucht worden. „Wer nicht arbeiten muss – gut. Wer nicht will – da braucht’s andere Regeln. Wer nicht mehr kann – den müssen wir unterstützen.”

Innovative Geschäftsmodelle

Neben Digitalisierung und Personal sind für Will auch neue Geschäftsmodelle entscheidend für eine tragbare Handelszukunft: Secondhand, Mietmodelle und Plattformlösungen. „Die junge Generation hat ein hohes Wertebewusstsein. Mieten statt kaufen, reparieren statt wegwerfen – darauf muss der Handel reagieren.” In dem Kontext sei auch der Reparaturbonus ein wichtiger Hebel: „So wird aus einem Fachhändler wieder jemand, der repariert – mit direktem Kundenkontakt.”

Damit einhergehend: Die öffentliche Beschaffung soll regionaler und nachhaltiger werden. „Wenn ein Ministerium Möbel kauft, sollten heimische Anbieter bevorzugt werden. Es darf nicht sein, dass mit Steuergeld Kinderarbeit und Dumping importiert wird.” Nachhaltigkeit und soziale Standards müssten verpflichtend berücksichtigt werden.
Will fordert mehr Mut zur Umgestaltung der Städte – auch und speziell im unerwarteten Detail: „Jedes Örtchen braucht ein stilles Örtchen”, so Will, zumal man nicht für jedes Geschäft die Gastronomie aufsuchen will. Die Conclusio: „Aufenthaltsqualität ist Frequenz – und Frequenz hält den Handel am Leben.” Dazu gehören dann Tiefgaragen ebenso wie Grünflächen. „Die Leute wollen einkaufen und verweilen – dafür braucht es durchdachte Konzepte.”
Will verweist auf die aktuelle City Retail-Doku, die der Handelsverband Ende Februar mit Standort+Markt präsentiert hat. „Wir müssen die Innenstädte als Lebensräume neu denken – multifunktional, durchmischt, attraktiv. Handel ist dabei mehr als Verkauf: Er schafft Begegnung, Stabilität und Teilhabe.”

Faktor USA: Wie geht’s weiter?

Bleibt letztlich noch die Frage, inwieweit die Zollwut der USA die Handelslandschaft hierzulande zu beeinflussen vermag. Will sieht es so: „Wenn Trump auf den Zöllen gegen China beharrt, wird Europa zur Müllhalde des Planeten. Dann rollt die Dumping-Lawine direkt zu uns.” Um einen Lösungsansatz ist der umtriebige Handelsverbands-Chef nicht verlegen: Eine Bearbeitungsgebühr pro Paket sei ein erster Schritt. Allerdings: Ohne technologische Aufrüstung und gemeinsamen europäischen Kurs droht Europa abgehängt zu werden. „Wir können nicht mit mittelalterlichen Methoden arbeiten, wenn die Konkurrenz mit KI scannt.”

Das gesamte Interview ist abrufbar unter: tv.medianet.at

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