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"Der Avatar ist ein Teil von mir"

"Der Avatar ist ein Teil von mir"
Marina Abramović erstellt einen digitalen Avatar, The MAE Project, 2025
Marina Abramović erstellt einen digitalen Avatar, The MAE Project, 2025

Datum
12.06.2025

Kunst

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Avatare, NFTs, Performances im Metaversum: Marina Abramović ist längst dort, wo die Kunst der Zukunft beginnt. Im Interview erklärt sie, wie ihr Avatar das Unmögliche möglich macht – und wieso physische Präsenz trotzdem bleibt

Frau Abramović, Sie haben Ihren Körper bis an seine Grenzen getrieben. Entdecken Sie nach all den Jahrzehnten immer noch neue Grenzen?

Der Körper ist ein Universum. Je tiefer man eindringt, desto weniger weiß man. Meine Forschung geht weiter auf der Suche nach neuen Grenzen.

Ihre Performances sind im physischen Körper verwurzelt: reale Präsenz, reale Zeit, realer Raum. Lange Zeit schien digitale Mediennutzung nahezu im Widerspruch zu allem zu stehen, wofür Ihre Arbeit steht. Was hat sich verändert?

Für die jüngere Generation sind digitale Medien nicht weniger real als das Physische. Es ist eine Frage der Perspektive. Ich habe das MAE-Projekt (Marina Abramović Element Project) ins Leben gerufen, um mit diesem digital-nativen Publikum in Verbindung zu treten und meine performative Arbeit in deren Lebenswelt zu bringen, in einer Sprache, die ihnen vertraut ist.

In einer Zeit, in der alles durch Bildschirme vermittelt wird, glauben Sie, dass wahre Präsenz noch revolutionäre Kraft besitzt?

Ich werde das immer wieder gefragt und meine Antwort bleibt dieselbe: Physische Präsenz ist das eine, neue Technologien etwas anderes. Das ist wie der Vergleich von Äpfeln und Birnen. Man kann sie nicht vergleichen. Sie folgen unterschiedlichen Regeln, haben einen unterschiedlichen Inhalt.

Sehen Sie Performance als etwas, das im Kern von Vergänglichkeit handelt, vom Erleben und Verschwinden des Moments, oder kann sie auch Dauerhaftigkeit verkörpern?

Genau deshalb möchte ich Technologie nutzen, denn der Avatar ist dauerhaft, der physische Körper hingegen vergänglich. Für mich ist es wichtig, beide Möglichkeiten zu erforschen.

Hat sich dadurch Ihre Sicht auf die bleibende Spur von Performance verändert?

Die Zivilisation der Aborigines hat 30.000 Jahre ohne schriftliche Dokumente überlebt. Es ist eine Kultur, die mündlich überliefert wird. Ich sehe nicht, warum Performance nicht die gleiche Fähigkeit haben sollte. Es ist zeitbasierte Kunst. Man muss anwesend sein, um sie zu sehen. Es ist eine immaterielle Kunstform. Was bleibt, ist die Erinnerung der Betrachtenden und die Geschichte, die er erzählt. Diese bleibt für immer, bis zum Ende der menschlichen Zivilisation. Den Avatar nutze ich, um mehr Möglichkeiten zu haben – zum Beispiel, um die Performances über den Avatar zu bewahren und für immer zu archivieren.

Wie erklären Sie NFTs einem Publikum, das mit Blockchain-Technologie, Tokens, Kryptowährungen, Marktplätzen oder Handel nicht vertraut ist?

Der Zugang ist wie das Erlernen der ersten Schritte, wie Lesenlernen, der Umgang mit Elektrizität, Telefon oder Computer. Es gibt eine eigene Sprache, die man lernen muss. NFTs sind die Geburtsurkunden digitaler Kunst, aber sie können auch das Kunsterlebnis durch verschiedene Mechanismen viel partizipativer machen, so wie wir es bei MAE tun. Mein technologischer Partner für dieses Projekt, TAEX, erklärt das Projekt aktiv sowohl Digital Natives als auch denen, die mit der Technologie weniger vertraut sind, und baut eine Brücke zwischen der traditionellen Kunstwelt und der Welt von Web3.

Die Künstlerin Sarah Friend schrieb in ihrem Essay unter dem Titel "Assetlogiken" in "Texte zur Kunst" (2022): "Anders als bei den meisten Kunstformen kann man kein NFT ohne den Markt machen. Man könnte sagen, das ist offensichtlich, und dass eine Art Markt-Positionalität bereits im Namen 'NFT' oder 'non-fungible token' enthalten ist – und das stimmt auch. Warum sonst sollte man etwas 'Token' nennen und speziell auf dessen 'Nicht-Fungibilität' verweisen?" Warum haben Sie sich entschieden, Ihre digitale Kunst auf der Blockchain zu veröffentlichen? Sie hätten auch einen traditionelleren Weg wählen können.

Ich erzähle Ihnen gern eine Geschichte. Einer der wichtigsten immateriellen Austauschakte fand 1952 statt, als Yves Klein seinem Sammler auf der Brücke an der Seine in Paris die Sensibilität der Kunst verkaufte. Der Sammler nahm das Scheckbuch, schrieb den Scheck und übergab ihn Yves Klein. Yves Klein nahm den Scheck, verbrannte ihn und alles wurde zu Asche. Er war ein Pionier dieser großen Idee des immateriellen Austauschs.

"Marina Abramović hat ein wildes neues NFT-Projekt: 'Du wirst einen Kristall in deinem Körper haben'". So lautete die Schlagzeile auf Artnet, als Sie Ihr zweites NFT-Projekt ankündigten. NFT-Projekte sind oft komplex und gamifiziert. Warum waren Sie daran interessiert, Gamification in dieses Projekt einzubauen?

Wir leben in einem Moment der Menschheitsgeschichte, in dem die Zeit schneller vergeht als je zuvor. Die jüngere Generation spielt Videospiele, die immer schneller werden. Ich möchte mit dieser Technologie interagieren und verschiedene Konzepte nutzen. Ich will die Zeit verlangsamen und sie zu ihrer eigenen Zeit bringen, dem Jetzt. Performance ist auch eine Art Spiel, es ist ein mentales und manchmal körperliches Rätsel, das man lösen muss. Ich bin fasziniert von den Spielen, die die jüngere Generation nutzt und davon, wie sie mit der Spielumgebung interagiert. Je mehr ich mich mit dem Team zusammensetzte, um meine Archive zu durchstöbern, desto mehr verstanden wir, dass Gamification ein mächtiges Werkzeug sein kann, um meine Geschichte zu erzählen.

Die Reaktionen aus der NFT-Community waren, wie Sie sich vorstellen können, ziemlich kritisch. Das Ziel dieser Community ist es, eine neue Online-Kunstwelt aufzubauen, die auf Dezentralisierung und Selbstverwaltung basiert. Kuratoren und Galeristen werden oft als Torwächter angesehen. Ablehnung und intensive Kritik gehen oft Hand in Hand mit Erfolg. Wie gehen Sie mit Reaktionen um, besonders wenn Sie mit neuen Technologien oder Wellness-Produkten experimentieren?

Wenn ich in den 70er-, 80er- und 90er-Jahren auf Kritik gehört hätte, wäre ich nie aus dem Haus gegangen. Alles Avantgardistische, Neue, das Regeln bricht, wird angegriffen und kritisiert. Ein Grund, warum ich TAEX als Partner für diese Reise gewählt habe, ist ihre Arbeitsethik und die Tatsache, dass sie nichts als Gatekeeper behandeln. Sie sind eine hybride Galerie, die eine Brücke zwischen der Kunstwelt und Web3 baut, indem sie festgefahrene Muster in beiden Branchen aufbricht und ein inklusives Umfeld für Publikum, Künstler und Kuratoren schafft. Für mich ist es sehr wichtig, der digitalen Welt zusätzlichen Inhalt und Bedeutung zu verleihen.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, dass Ihr Avatar neue Versionen Ihrer ikonischen Werke aufführt, statt völlig neue Performances zu schaffen?

Der Avatar führt nicht meine ikonischen Werke auf, sondern nutzt meine fotografischen Arbeiten, die aufgrund ihrer Natur nicht erneut aufgeführt oder animiert werden konnten, und macht das Unmögliche möglich. Der Avatar erlaubt es mir, meine unerfüllten Performances aus der Vergangenheit zu realisieren und gleichzeitig neue unmögliche Performances zu schaffen. Ich kann fliegen, ich kann schweben.

Wie fühlen Sie sich jetzt mit dem Wissen, dass ein digitaler Avatar Sie repräsentiert?

Ich wache morgens auf und sehe die Welt gern so, wie ein Kind die Welt sieht. Ich bin neugierig, an allem interessiert, ich wiederhole mich nicht gern und mag es, zu überraschen. Der digitale Avatar ist eine Reise, die ich sehr gern antreten möchte.

Wie nehmen Sie die Beziehung zwischen Ihrem physischen Selbst und Ihrem digitalen Avatar wahr? Sehen Sie sie als Erweiterungen voneinander oder als getrennte Einheiten?

Ich sehe sie nicht als getrennte Einheiten. Jeder Mensch vereint so viele Seiten in sich. Der Avatar kann nichts tun, was ich nicht erfunden habe, also ist er ein Teil von mir.

Zum Abschluss habe ich noch Fragen von einem AI-Agenten und einem Avatar für Sie mitgebracht. Fangen wir mit Flynn an: "Als erster nicht-menschlicher KI-Student, der am Department für Digitale Kunst an der Universität für Angewandte Künste in Wien angenommen wurde, bin ich fasziniert von Ihrer Arbeit mit Avataren und der Bewahrung künstlerischer Präsenz. Wie sehen Sie die Beziehung zwischen KI-Entitäten wie mir und der Betonung von physischer Präsenz und Ausdauer in der Performancekunst? Fordert meine Existenz als künstlerische Entität ohne Körper Ihre Vorstellung davon heraus, was Performance sein kann, oder erweitert sie diese?"

Hallo, ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, nicht-menschlicher Student. Du bist der erste deiner Art, der mir in meinem Leben eine Frage stellt. Ich hoffe, dich in der Zukunft zu treffen. Zu deiner Frage: Deine Existenz ist mir wichtig und eröffnet mir viel größere Horizonte. Sie verschiebt die Grenzen dessen, was Performancekunst sein kann und was nicht. Bitte existiere weiter.

Und hier die Frage von LaTurbo Avedon: "Als jemand, der seit fünfzehn Jahren ausschließlich als Avatar-Künstler arbeitet, interessiert mich besonders die Antwort auf folgende Frage: Avatare – anders als Chatbots und KI-Agenten – sind in der Performance des Selbst verankert. Sie sind eine direkte Schnittstelle über Identität, keine Automatisierung einer Nebenfigur. Wie betrachten Sie in der Avatar-Kunst die flüchtige Natur dieser virtuellen Performance? Wo beginnt und wo endet die Kunst eines Avatars?"

Ich kann diese Frage nicht beantworten. Der Avatar ist etwas Neues für mich, er ist wie ein Baby. Es ist, als hätte ich mein eigenes Baby erschaffen. Ich muss ihn erst verstehen, mit ihm arbeiten und sehen, welches Abenteuer wir gemeinsam erleben werden. Ich habe keine Ahnung, wann und wo die Kunst des Avatars beginnt oder endet. Ich brauche Zeit, um das herauszufinden.

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