
Datum
13.06.2025
Mit dem Format VRAHM! hat Hamburg seine erste Biennale für immersive Kunst. Darin findet man Hologramm-Omas, Orakel-Interfaces und Cate Blanchett als Meditations-Coach. Kann das funktionieren?
Hört man die Worte "immersiv" und "Kunst" im gleichen Atemzug, denkt man schnell an Wanderausstellungen, in denen Werke berühmter Künstler wie Vincent van Gogh, Frida Kahlo und Pablo Picasso mit Beamern auf Wände projiziert und irgendwie animiert werden. In der Kunstszene sorgt das oft für hochgezogene Augenbrauen, aber auch sonst gilt: Wer das einmal gesehen hat, braucht es vermutlich kein zweites Mal. Schnell sehnt man sich zurück ins Museum, mit physisch präsenten Bildern an den Wänden. Ein Ausstellungsbesuch bekommt selten das Label experience, ist aber dennoch ein intensiveres Kunsterlebnis.
Dass das Label "immersiv" in der Kunst auch mehr bedeuten kann, zeigt nun die VRAHM!-Biennale in Hamburg, die 2018 von Ulrich Schrauth als künstlerisches Virtual-Reality-Festival gegründet wurde und nun erstmals in der neuen Struktur stattfindet.
Unter dem Motto "Kunst neu denken" werden zwölf internationale Positionen gezeigt – verteilt über das Oberhafenquartier. Gemeinsam haben alle Arbeiten den Einsatz digitaler Technologien im Entstehungsprozess: von 3D-Druckern über umfunktionierte Smartwatches bis hin zu diversen KI-Modellen. In diesem Jahr stehen die bildenden Künste im Fokus, für 2027 ist der Schwerpunkt Tanz und Performance geplant. 2029 folgen Film und Bewegtbild.
Immer wieder: Natur und Technik
Viele der diesjährigen Arbeiten, bei denen Bewegtbild bereits eine entscheidende Rolle spielt, sind in einem Raum gesammelt, in dem es surrt und brummt und rauscht. In vielen der Werke wurde mit Video und Sound gearbeitet – die sich in dem Ausstellungsraum zu einem immerwährenden, dröhnenden Remix verdichten. Der Klangteppich erinnert jederzeit daran, wie viel hier gleichzeitig passiert, sich bewegt und in Loops wiederholt.
Zwischen Virtual-Reality-Brillen und Monitoren sticht eine Skulpturengruppe des Londoner Künstlers William Darell ins Auge. Mit "The Machinery of Enchantment II" zeigt er menschengroße, am Computer designte und per 3D-Druck gefertigte Blumen. Es ist das einzige Werk ohne Videokomponente – und fesselt gerade deshalb den Blick. Die fabelhaften Blüten, die an Lego-Ästhetik erinnern, drehen sich; einzelne Blätter gleiten geschmeidig in sich ständig wiederholenden Spiralen ineinander.
Darell ist – wie viele der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler – zur Eröffnung anwesend. Bis kurz vor dem Start kniet er noch mit Werkzeug vor den Plastikblüten und richtet technisch die letzten Dinge ein. Dann erzählt er, dass ihn interessiert, wie sehr der Mensch sich von Blumen angezogen fühlt. Heute besitzen auch digitale Welten diese Fähigkeit: Sie saugen uns ein, hypnotisieren uns fast. Beides wollte er kombinieren, sagt er.
Digitales Orakel
Viele weitere Arbeiten haben einen interaktiven Charakter. Die kanadische Künstlerin Sabrina Ratté hat mit "Cyberdelia" etwa ein digitales Orakel geschaffen: Die Besuchenden treten in eine mit Vorhang abgetrennte Nische, formulieren eine Frage und ziehen zur Antwortfindung eine Karte – ähnlich wie beim Tarot. Legt man die Karte auf ein Lesegerät, wird auf einem Monitor ein Video abgespielt; zu sehen sind verschiedene organische Formen, die durch ihre Offenheit und die erzeugten Assoziationsspielräume zur individuellen Deutung anregen sollen.
Gegenüber liegen VR-Brillen aus, mit denen das Werk "Intangible" des dänischen Designers und Künstlers Carl Emil Carlsen erlebt werden kann. In dem virtuellen Raum wirbeln silberne Figuren umher, die sich zu pflanzenartigen Gebilden formen.
Organische Formen, Naturbezüge und das Verhältnis zwischen natürlicher und technischer Welt ziehen sich durch viele Werke. Das Spannungsfeld zwischen ursprünglicher, biologischer Welt und virtuellen Paralleluniversen ist das zentrale Thema der Schau. Natur erscheint als Projektionsfläche, als fiktionalisierter Sehnsuchtsort – erreichbar nur durch Bildschirme, Strom, Pixel. Das erinnert an altbekannte Erzählungen aus Dystopien und Science-Fiction-Szenarien: eine Zukunft, in der die Technik die Welt beherrscht und Natur zur Erinnerung wird.
Dieses Hologramm ist politisch
An anderer Stelle wird die Ausstellung explizit politisch. Der Blick richtet sich inhaltlich weniger auf das Morgen als auf Geschichte und Gegenwart. Gabriel Masan zum Beispiel thematisiert in seiner Videoinstallation "How Do We Get There?" – realisiert mit Computerspieltechnologie – Mobilität und soziale Teilhabe in Regionen rund um Rio de Janeiro. Die Künstlerin Yaloo greift mit "Shininho" den Wandel des Piratenbegriffs auf. "Piraten waren früher, bei aller Kriminalität, auch so etwas wie frühe chosen families", sagt sie. Heute gäbe es neben den Seefahrern mit Dreieckshut neue Bilder von Piraterie: im digitalen Raum, auf der Suche nach Daten.
Für ihre Hologramm-Installation hat die Künstlerin ihre südkoreanische Großmutter in 360 Grad scannen lassen. "Wir können nicht wirklich gut miteinander kommunizieren", erzählt sie. "Daher dachte ich, ich versuche es durch die Kunst und leihe mir ihre Haut für ein Werk." Die Installation steht menschengroß und durchscheinend im Raum; der Effekt entsteht durch LEDs, die in verschiedenen Farben leuchten und sich so schnell drehen, dass sich aus dem Licht Bilder formen. Das digitale Abbild hat Yaloo so verändert, dass die Großmutter zuweilen aussieht wie ein K-Pop-Star, dann wieder wie eine futuristische Piratin – und nicht mehr wirklich menschlich. "The line between existing and not existing is thin" (die Grenze zwischen Existenz und Nicht-Existenz ist schmal) – dieser Satz läuft auf einem Spruchband am Fuß des Hologramms.
Existieren oder nicht existieren, Mensch sein, Maschine werden, Natur fühlen und verlieren – diese Motive durchziehen die Ausstellung. Die technischen Effekte der Werke binden jedoch oft so viel Aufmerksamkeit – sitzt das Hilfs-iPad richtig, ist die VR-Brille korrekt positioniert, wo sind die Kopfhörer? –, dass gerade die politischen Inhalte, die so viel sagen wollen, schnell übersehen werden und in dem lauten Dröhnen untergehen.
Cate Blanchett redet vom Blutfluss
Wirklich "immersiv" – im Sinne eines sinnlich ganzheitlichen Eintauchens – wird es bei der Arbeit "Evolver" des britischen Künstlerkollektivs Marshmallow Laser Feast. Die 40-minütige Installation, die in zwei abgetrennten, verdunkelten Räumen stattfindet, folgt dem menschlichen Atem. Sechs Personen, die vorab Zeitslots buchen müssen, starten parallel mit einer auditiven Meditation, eingesprochen von Cate Blanchett (Promi-Faktor).
Danach folgt eine rund 25-minütige Sequenz mit VR-Brillen, in der menschliche Atemzüge visualisiert werden. Kleine rote und weiße Punkte, die im ersten Moment an Sterne erinnern und dann an Blutpartikel aus dem Biologieunterricht, strömen durch den virtuellen Raum.
Der so dargestellte Luftstrom bewegt sich abstrakt durch Mund und Lunge, zirkuliert durch das Herz-Kreislauf-System und wird schließlich wieder ausgestoßen. Unterlegt ist die Atemreise unter anderem mit Musik des DJs Jon Hopkins und des Komponisten Jóhann Jóhannsson.
Künstlerisches Mittel oder Schwerpunkt einer Arbeit?
Zum Ende hin spricht auch Blanchett noch einmal: von einer endlosen Reise, verbundenen Kaskaden, die Leben formen und die Grenzen zwischen Körpern aufweichen – und liefert damit gleich die Interpretation des Werks mit. Ergänzt wird die Installation durch einen Monitor, der die wissenschaftliche Grundlage von "Evolver" erklärt – eine Entzauberung, die dennoch beeindruckt oder zumindest validiert: Die Visualisierung basiert auf medizinischen Bildgebungsverfahren und Blutfluss-Simulationen.
Sitzt man in dem Raum, mit der VR-Brille auf dem Kopf, wird einem irgendwann leicht schwindelig, der Kopf brummt. Die Erfahrung – Brille auf, Bild scharfstellen, den Effekt interessant finden und irgendwann verstehen – erinnert an die ersten Besuche im 3D-Kino: Kurzfilme, die besonders durch ihre technische Machart faszinierten.
Noch steht Virtual Reality in der Kunst am Anfang – und in den aktuellen Werken steht die digitale, technische Komponente oft sehr im Vordergrund. Noch ist VR in der Kunst selten ein bloßes Werkzeug, sondern rückt selbst in den Fokus – und scheint nicht selten auch inhaltlich mitzubestimmen.