
Das Thema Documenta war in Kassel in letzter Zeit eher konfliktbeladen. Nun wird die Weltkunstschau 70 Jahre alt - und der Künstler Mario García Torres zeigt im Fridericianum, wie viel Spaß es machen kann, die Kunstgeschichte zu plündern
Mit der guten Laune in der Kunst ist das in Kassel so eine Sache. Vor allem, wenn es dabei auch noch um das Reizthema Documenta geht. Knapp drei Jahre nach dem Antisemitismus-Eklat bei der 15. Ausgabe der Weltkunstschau fühlen sich viele durch die schier endlosen Debatten etwas mürbe - obwohl immer noch neue Publikationen zur Aufarbeitung erscheinen und die kommende Ausgabe der Ausstellung unter der kuratorischen Leitung von Naomi Beckwith bereits ihre Schatten vorauswirft. Aber 2025 ist ein Jubiläumsjahr: der 70. Geburtstag der Documenta, die 1955 erstmals im kriegsversehrten Kassel stattfand. Wegschauen ist also keine Option.
Mit wie viel Freude und Verspieltheit man sich der Geschichte der Kunst nähern kann, zeigt dagegen gerade Mario García Torres im Fridericianum. Die Ausstellung mit dem Titel "A History of Influence" ist ein Auftakt des Festprogramms zu 70 Jahren Documenta - und der mexikanische Künstler weiß ziemlich genau, wovon er spricht. 2012 war García Torres Teil der von Carolyn Christov Bakargiev verantworteten D13 in Kassel. Und aus seinem Werk spricht ein fast diebischer Spaß daran, in den Schatzkästchen der Kulturgeschichte zu wühlen und die zutage geförderten Prachtstücke zu collagieren und sich zu eigen zu machen.
Im Ergebnis kann das dann so aussehen, dass die Arte-Povera-Legende Mario Merz (die auf Porträts nicht gerade wie eine Stimmungskanone aussieht) in einer Kasseler Kellerbar zu 80s-Synthesizer-Klängen tanzt. Die Videoarbeit "Merz, Rzemmmm, Zeeeeerm, Emrzzzzzz (At Fibonacci Pace)", die die Besucher im Fridericianum begrüßt, basiert auf einer historischen Fotografie von 1972. Diese zeigt Merz und weiteres Documenta-Personal während der Vorbereitungen zu Harald Szeemanns legendärer D5-Schau in einer Absturzkneipe. Mithilfe der Kasseler Schwarmintelligenz hat das Fridericianum-Team inzwischen herausgefunden, dass es sich dabei um die Lokalität Standuhr in der Innenstadt handeln muss, in der heute eine Shisha-Bar residiert.
Kunsthistorisches Reenactment mit wild gewordenem Wasserschlauch
Mit amateurhafter Robustheit hat Mario García Torres seinen Vornamensvetter Mario Merz zum Tanzen animiert und lässt ihn nun herrlich ungehemmt und unbeholfen auf der Leinwand herumzappeln. Das Fridericianum ist dabei für den italienischen Bildhauer (1925-2003) kein unbekannter Ort. 1972 zeigte Merz dort bei der Documenta 5 eine seiner Iglu-Skulpturen mit Neonschrift.
Solch verzweigten Verweispfaden kann man auch in den übrigen Werken von Torres folgen. So zeigt er in einem weiteren Videoraum seinen visuellen Essay "¿Alguna vez has visto la nieve caer?" (Haben Sie jemals den Schnee gesehen?), der sich auf Spurensuche nach Alighiero Boettis sagenumwobenem "One Hotel" in der afghanischen Hauptstadt Kabul begibt. Von 1972 bis 79 betrieb der Konzeptkünstler und mehrfache Documenta-Teilnehmer Boetti diesen Ort der Gastlichkeit, von dem heute nur wenige Bilder überliefert sind. Sowohl Boetti als auch Torres beschäftigt die Frage des Gastgebens und Gastseins, der flüchtigen Begegnung in der Zeit. Torres zeigt in Kassel nun eine Art Reenactment: nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Der Videoraum ist an genau derselben Stelle aufgebaut, wo er vor 13 Jahren bei der Documenta 13 platziert war.
Auch die opulente Installation "Manifestazione tangibile di una fantasia mentale", die einen ganzen Fridericianumssaal ausfüllt, bezieht sich auf Alighiero Boetti, genauer gesagt auf dessen kinetisches Selbstporträt "Mir raucht der Kopf" von 1993/94. Das Werk besteht aus einer Bronzestatue, deren Haupt durch ein verstecktes Heizungssystem erwärmt wird. Das Wasser, das aus einem Schlauch auf die Künstlerskulptur gespritzt wird, verdampft zischend auf dem heißen Kopf. Aus dieser Versuchsanordnung hat sich Mario García Torres nun allein den Schlauch herausgenommen. Als habe dieser ein magisches Eigenleben entwickelt, windet er sich in arabesken Schleifen durch den Raum. Das Werk schwebt wie eine dreidimensionale Zeichnung in der Luft, könnte aber auch (obwohl das Material oxidiert grün ist) als metaphorischer roter Faden einer verschlungenen Erzählung verstanden werden.
Das freundlichste aller "Rabbit Holes"
Dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt, ist eine Binsenweisheit der Kunstgeschichte. Schon der ehemalige MoMA-Direktor Alfred H. Barr versuchte 1936, die Beziehungen zwischen modernen Stilrichtungen als intellektuell anmutendes Diagramm darzustellen. Torres kontert in Kassel mit seinen eigenen komplexen Schaubildern; nur, dass es darin um Kollaborationen zwischen Pop- und Hip-Hop-Stars sowie die Ursprünge des persönlichen Musikgeschmacks des Künstlers geht.
Auffällig viele Bezüge und Verbindungen sind aber auch die Grundlage von Verschwörungserzählungen, die ein fester und identitätsstiftender Teil von Politik und Popkultur sind. In Torres' Video "Falling Together in Time" entspinnen sich plötzlich spektakuläre Geschichten rund um den Glam-Rock-Hit "Jump" der US-Band Van Halen von 1983. Der eingängige Gassenhauer verbindet die Box-Legende Muhammad Ali mit dem Van-Halen-Sänger David Lee Roth, einem Trucker aus Manchester und zwei Suizidversuchen auf zwei Kontinenten. "What are the odds?" (Wie wahrscheinlich ist das?) fragt die Erzählstimme des Videos, die das Publikum immer tiefer in dieses recht freundlich wirkende "Rabbit Hole" hineinzieht. Wenn man Zufälle ernst nimmt, können sie im besten Fall eine tiefere Bedeutung von vermeintlich Alltäglichem offenbaren. Und im schlimmsten Fall den Glauben an dunkle Mächte nähren, die im Hintergrund die Fäden ziehen.
Im Fridericianum dominieren jedoch die optimistischeren Formen des storytelling. Mario García Torres spinnt unterhaltsame Netze aus kunst- und popgeschichtlichem Nerdwissen und präsentiert dieses mit Humor und Leichtigkeit, wie man es in der zeitgenössischen Kunst gerade selten erlebt. Vielleicht ist das ein gutes Omen für das Documenta-Jubiläumsjahr. Denn auch die Weltkunstschau steht für den Glauben, dass die Kunst aus historischen Einflüssen stets etwas Neues, Vorwärtsgerichtetes schaffen kann. Der animierte Mario Merz zumindest kann gar nicht mehr aufhören zu tanzen.